Richterrecht

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Richterrecht ist ein Recht, dessen Entstehung nicht von legislativen Einrichtungen im kontinentaleuropäischen Sinn (Bundestag bzw. Nationalrat, Landtage) herrührt, sondern von der Judikative selbst geschaffen wird. Die älteste bekannte Form einer unabhängigen Rechtsbildung sind die irischen Brehon Laws, für die Gesetzesschulen (u.a. Cahermacnaghten) bestanden.

In den Bereichen, für die die Legislative noch kein Recht – im Englischen: „statute law“ - gesetzt hat, entsteht das Recht durch richterliche Rechtsgewinnung – im Englischen case law –, das dann als Präzedenzentscheidung für gleichartige zukünftige Fälle Recht setzt. In dem Maße, in dem die gesetzliche Regelungsdichte zunimmt, verkleinert sich der Spielraum für das Richterrecht.

Soweit eine Legislative Recht in Gesetzesform beschlossen hat, bindet dies den Richter, Art. 20 Abs. 3 GG. In der Praxis haben höchstrichterliche Entscheidungen, beispielsweise die des deutschen Bundesgerichtshofs oder des Obersten Gerichtshofs in Österreich, zwar eine gewisse richtungsweisende Bedeutung für untergeordnete Gerichte, reichen aber, außer im Fall der Zurückverweisung durch das Revisionsgericht an das dann gebundene Berufungsgericht, nicht weiter als die Überzeugungskraft ihrer Gründe. Wie die Revisionszulassungsregeln z. B. des § 72 ArbGG erschließen und bestätigen, darf der Richter Fehler in vorgefundenen Entscheidungen höherer Gerichte nicht übernehmen sondern hat, soweit es sein höchstpersönliches Gesetzesverständnis gebietet, auch von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, von einer Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes sowie von einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts abzuweichen.

Richterrecht entsteht in Ausfüllung von Gesetzeslücken oder in solchen Fällen, in denen die Anwendung des (Zivil-)Gesetzes zu unbilligen Ergebnissen führen würde. Historisches Beispiel für die Entstehung von Richterrecht, das „contra legem“ (also entgegen den Wortlaut des Gesetzes) entstand, ist der sog. „Wegfall der Geschäftsgrundlage“, welcher heute in § 313 BGB als Störung der Geschäftsgrundlage geregelt ist. Während der Zeit der Inflation kam es in Deutschland zu Situationen, in denen der eine Vertragspartner auf Grund einer vertraglichen Bindung eigentlich zur Lieferung der Ware zu einem fest vereinbarten Kaufpreis verpflichtet gewesen wäre, der Preis auf Grund der Inflation jedoch unangemessen niedrig gewesen wäre. Es gab keine gesetzliche Grundlage, die dem Lieferanten eine Möglichkeit gegeben hätte, für seine Waren einen angemessenen Preis zu verlangen, schließlich war ein fester Preis vertraglich vereinbart worden. In dieser Situation entwickelte das Reichsgericht die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage.

Fehlt es hingegen in einem konkreten Streitfall an einer gesetzlichen Rechtsgrundlage für die vom Richter zu treffende Entscheidung, darf der Richter nicht aus diesem Grunde die Entscheidung verweigern sondern hat die Gesetzeslücke rechtsetzend zu schließen (so genannte Analogie). Als Beispiel für Richterrecht wird gern das so genannte Arbeitskampfrecht genannt.

Das Bundesverfassungsgericht hat im „Soraya“-Urteil 1973 ausdrücklich festgestellt, dass es bezüglich Entscheidungen des Bundesgerichtshofes für Zivilsachen nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz hat und damit auch dem Bundesgerichtshof die Möglichkeit eröffnet, „contra legem“ zu urteilen.

In Deutschland rührt die Anwendung und juristische Akzeptanz des Richterrechtes aus der Erkenntnis, dass kein Gesetzgeber in der Lage ist alle zukünftigen Entwicklungen vorherzusagen. So hatte z. B. das Königreich Preußen als weitgehend agrarisch strukturiertes Land um 1830 mit dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten (ALR) noch eine ausreichende zivilgesetzliche Regelung. Mit Einsetzen der Industrialisierung war die Vorhersagbarkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch rapide zurückgegangen. Aus diesem Grund wurde mit der Ablösung des ALR sowie anderer Zivilrechte durch die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs eine flexiblere Lösung gesucht.

Der Begriff des Richterrechts ist eng mit dem der Rechtsfortbildung verbunden.

Literatur

  • Andreas Piekenbrock: Faktische Rechtsänderungen durch Richterspruch als kollisionsrechtliches Problem. In: Zeitschrift für Zivilprozeß (ZZP), 119. Bd., 2006, S. 3-38.
  • Alfred Schramm: „Richterrecht“ und Gesetzesrecht. Eine rechtsvergleichende Analyse anhand von Merkls Rechtsnormenlehre. In: Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik, Kommunikationsforschung, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts. 36. Bd., 2005, S. 185-208.
  • Reiner Schulze, Ulrike Seif (Hrsg.): Richterrecht und Rechtsfortbildung in der europäischen Rechtsgemeinschaft. Mohr Siebeck, Tübingen 2003.

Siehe auch