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Die Soldatenbraut

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: E. R.
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Titel: Die Soldatenbraut
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 615–616
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[615] Die Soldatenbraut. Ich war nach längerer Abwesenheit wieder einmal daheim, in der alten traulichen Universitätsstadt an der Ostseeküste. Gestern war ich eingezogen durch das ehrwürdige Stadtthor, vorbei an den giebelgeschmückten Häusern. Heute hatte es mich früh aus dem Bette getrieben, und der goldige Sonnenschein regte mich zu einem Spaziergange an; alte bekannte Plätze in der Vorstadt wollte ich aufsuchen, wo ich als Kind gespielt. Unterwegs schwenkte mit mir zugleich ein kleiner Trupp Soldaten in eine Straße ein, um zur täglichen Uebung aufzumarschiren – da bot sich mir ein befremdendes Schauspiel: den Soldaten zur Seite trabte mehr, als es ging, ein altes Mütterchen, mit keuchendem Athem; sie schien offenbar ihre ganze Kraft aufwenden zu müssen, um nicht hinter den Marschirenden zurückzubleiben.

Die Alte erregte mein Interesse, und ich fragte einen Vorübergehenden, wer sie sei; da erhielt ich von der Straßenjugend den Spottnamen „die Soldatenbraut“ als Antwort, ein älterer Mann aber sagte mir, bei dem Mütterchen müsse es wohl im Kopfe nicht ganz richtig sein; denn sie rücke regelmäßig in Winter wie im Sommer, mit den Recruten aus, achte auf jede ihrer Bewegungen und kehre dann auch mit ihnen in die Stadt zurück, nachdem sie genau die Parole für den folgenden Tag erfahren. Nach dieser Erklärung mußte ich mit doppeltem Interesse zu der alten Frau hinüber blicken.

Es war im Jahre 1815 – so erzählte mir später ein Freund, den ich um das Schicksal der Alten befragt hatte – als nach glücklich beendetem Kriege gegen Frankreich unsere siegreichen Truppen in die Heimath zurückkehrten; in allen deutschen Gauen herrschte freudige Erregung; denn der Landesfeind war besiegt, und die Brüder und Gatten, die uns von jahrelanger Schmach befreit, kehrten jubelnd heim. Wie viele Opfer, wie viel theures Blut hatte der Krieg gekostet! O, des Jammers war kein Ende, und doch jauchzte selbst der schwer Betroffene noch in seinem Schmerz aus Freude über den Sieg und die endliche Befreiung aus der Fremdherrschaft und Knechtschaft.

Aber den rüstig einziehenden Kriegern folgten bleiche Gesichter, Verwundete und Kranke, die besonderer Pflege bedurften. So erboten sich denn die begüterten Bürger der Stadt, Verwundete in ihre Häuser zu nehmen und zu pflegen, um auch in dieser Weise dem Vaterlande noch einen Dienst zu leisten.

Nun lebte in unserer Universitätsstadt ein angesehener, schon ziemlich bejahrter Professor, der unweit der Stadt, jenseits des Stromes, ein niedliches Häuschen mit schattigem Garten besaß, so recht geeignet, um einem Reconvalescenten zum Aufenthalte zu dienen. Der Herr Professor hatte sich ebenfalls zur Aufnahme eines Verwundeten gemeldet, und eines Tages wurde ihm ein junger Officier in’s Haus gebracht; das Gesicht des Verwundeten bedeckte fahle Blässe, und mit größter Vorsicht mußte er in das für ihn bereitete Zimmer getragen und auf’s Bett gelegt werden. Unser Professor hatte früh die Gattin verloren, aber drei Töchter waren der Trost seiner Tage, und namentlich die jüngste, kaum der Kindheit entwachsen, ein liebliches ausgelassenes Mädchen, war die Freude seines Alters – Marie.

Mit der ganzen Innigkeit und Lebhaftigkeit ihrer sechszehn Jahre trauerte Marie um den armen Verwundeten und schenkte ihm ihr regstes Mitleid; freilich verging lange Zeit, ehe sie ihn sehen durfte; denn langsam besserte sich sein Zustand, und Alles, was sie für ihn thun konnte, war, daß sie täglich die schönsten Erdbeeren des Gartens für ihn pflückte und wohl auch eine Rose als Gruß aus dem sonnigen Garten darauf legte.

Da kam eines Tages die freudige Nachricht, der Arzt habe dem Patienten den ersten Gang in den Garten erlaubt, und bald war ein schattiges Plätzchen ausgewählt und mit aller Bequemlichkeit ausgerüstet, um den Leidenden aufzunehmen. Doch bevor er erschien, war sein junger Schutzgeist schon verschwunden, und nur von weitem betrachtete das schüchterne Mädchen mit warmem Interesse die bleichen Züge des jugendlichen Kriegers. Dieses Fliehen und Meiden, das sich täglich wiederholte, konnte aber nicht von Bestand sein; denn nachdem der Professor dem jungen Officier seine beiden ältesten Töchter vorgestellt, mußte auch das jüngste Töchterchen alle Scheu und Zurückhaltung bezwingen, und aus dem scheuen Vögelchen wurde bald ein gefangener Vogel – ja, ein gefangener! Mariens kleines Herz kannte fortan keine schönere Freude, als die, dem jungen Reconvalescenten nahe zu sein. Er war ihr einziger Gedanke. Ach, wie oft drang durch die Stille der Sommertage ihr fröhliches Lachen, wenn sie, neben ihm sitzend, seinen Erzählungen lauschte! Wie oft saß sie auf dem Zweige des alten dickarmigen Baumes vor ihm und sang wie eine Lerche in die Luft hinein, zu seinem Ergötzen, immer ein Lied nach dem andern! Wie oft saß sie aber auch still und ernst neben ihm, mit einem Buche in der Hand und las ihm vor; doch der Ernst hielt nicht lange Stand; schnell warf sie das Buch auf den Rasen und sprang lachend davon, die langen blonden Zöpfe im Winde wiegend.

Die Pflege unter so freundlichen Menschen that dem armen Verwundeten sehr wohl; die Blässe seiner Wangen machte mehr und mehr einer gesunden Gesichtsfarbe Platz, und seine Kräfte nahmen so erfreulich zu, daß er bald, auf den Arm des lieblichen Mädchens gestützt, in den Gängen des Gartens umher gehen konnte; aber es war nur ein kurzes Idyll, das die Beiden mit einander durchlebten. Nur eine kleine Weile noch – und die Kräfte des Patienten hatten so erfreulich zugenommen, daß der Arzt ihn für hergestellt erklärte und in Folge dessen von seinem Regimentschef die Ordre zur Abreise eintraf.

Wo war aber Mariens fröhliches Lachen, wo war ihre Heiterkeit geblieben? Armes Kind! Jetzt waren es ihre Wangen, die täglich bleicher wurden, von denen der rosige Hauch immer mehr verschwand, ihre Augen, die immer trüber blickten, wenn sie Morgens nach durchweinter Nacht zum Vorschein kam! Doch noch ein Aufblitzen des Glückes, ja ein noch höheres Glück als bisher, sollte ihr zu Theil werden: an derselben Stelle, wo sie so oft in traulichem Geplauder mit einander gesessen, da saßen sie heute noch einmal – zum letzten Mal, und da geschah es, daß er ihr von Liebe sprach, von glühender Liebe. Weinend hing sie an seinem Halse; sie hörte seinen Schwur, daß er ihr treu bleiben wolle, daß er wiederkehren werde, um sie heim zu holen als sein geliebtes, theures Weib. – – –

Hat er seinen Schwur gehalten?

Seht jenes alte Mütterchen! Tag für Tag zieht es mit den Soldaten zum Thor hinaus, ein Gespötte der Jugend. [616] Marie ist alt geworden, alt und einsam, aber sie glaubt dem Schwur noch heute; sie wartet noch immer auf die Rückkehr des Geliebten, von dem sie nie wieder ein Wort gehört, nie eine Nachricht erhalten hat. Ach, hätte doch eine mitleidige Seele ihr gesagt, er sei gestorben!

Jahr auf Jahr verging; ihre Wangen wurden immer bleicher; alles Denken erlosch in ihr, und nur der eine Gedanke blieb klar in ihrer Seele: „Er kommt – er muß kommen;“ die ganze übrige Welt war ihr wie versunken, wie in dichten Nebel gehüllt.

Der Vater starb; die Schwestern starben – sie stand mit trockenen Augen an den Särgen ihrer Lieben; nichts bewegt mehr ihr Herz, als dieses Eine: „Er kommt – er muß doch kommen.“

Und so wandert sie noch heute mit den Soldaten hinaus, ewig ihn suchend, ewig ihn erwartend; sie wird wandern, so lange noch Athem in ihr ist. – Arme Marie, einst so jung, so schön – und nun? O grausame Liebe, die nicht Treue kennt noch Erbarmen!

E. R.