„Böhmermann-Affäre“ – Versionsunterschied

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Sowohl der türkische Staat als auch Erdoğan selbst erstatteten [[Strafanzeige]] gegen Böhmermann; die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein.
Sowohl der türkische Staat als auch Erdoğan selbst erstatteten [[Strafanzeige]] gegen Böhmermann; die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein.


Der umstrittene Beitrag war Gegenstand eines Telefonats der deutschen Bundeskanzlerin [[Angela Merkel]] mit dem türkischen Ministerpräsident [[Ahmet Davutoglu|Davutoglu]] am 4. April 2016. Merkels Äußerung, es handele sich nach gemeinsamer Ansicht um eine absichtliche Herabwürdigung,<ref>FAZ.net 4. April 2016: [http://www.faz.net/-hox-8fhy7 Merkel: Böhmermanns Erdogan-Gedicht „bewusst verletzend“]</ref> wird, auch vor dem Hintergrund des zuvor von EU und Türkei geschlossenen Abkommens zur Rücknahme von Flüchtlingen im Rahmen der [[Flüchtlingskrise in Europa ab 2015|Flüchtlingskrise]], in der deutschen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.
Der umstrittene Beitrag war Gegenstand eines Telefonats der deutschen Bundeskanzlerin [[Angela Merkel]] mit Erdogan. Merkels Erklärung, dass es sich nach gemeinsamer Ansicht um eine absichtliche Herabwürdigung handele, wurde, auch vor dem Hintergrund des zuvor geschlossenen Abkommens mit der Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen im Rahmen der [[Flüchtlingskrise in Europa ab 2015|Flüchtlingskrise]], in der deutschen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.


== Gedicht ''Schmähkritik'' ==
== Gedicht ''Schmähkritik'' ==

Version vom 13. April 2016, 08:59 Uhr

Jan Böhmermann (2014)
Recep Tayyip Erdoğan (2015)

Als Böhmermann-Affäre werden ein Fernsehbeitrag des deutschen Satirikers und Moderators Jan Böhmermann und die darauf folgenden Reaktionen von türkischer und deutscher Seite bezeichnet.

Der Beitrag wurde am 31. März 2016 in der ZDF-Sendung Neo Magazin Royale im öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Bezugnehmend auf ein satirisches Lied der ARD-Sendung extra 3 und türkische Reaktionen darauf hatte Böhmermann zusammen mit seinem Sidekick Ralf Kabelka ein als „Schmähkritik“ bezeichnetes Gedicht auf den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan vorgetragen.

Das ZDF nahm die Sendung Neo Magazin Royale am 1. April aus seiner Mediathek stellte stattdessen eine Fassung ohne das Gedicht online. Vorwürfe der Selbstzensur gegen den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender wies das ZDF mit Hinweis auf Qualitätsmängel des Beitrags zurück.

Sowohl der türkische Staat als auch Erdoğan selbst erstatteten Strafanzeige gegen Böhmermann; die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein.

Der umstrittene Beitrag war Gegenstand eines Telefonats der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Erdogan. Merkels Erklärung, dass es sich nach gemeinsamer Ansicht um eine absichtliche Herabwürdigung handele, wurde, auch vor dem Hintergrund des zuvor geschlossenen Abkommens mit der Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen im Rahmen der Flüchtlingskrise, in der deutschen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert.

Gedicht Schmähkritik

Einbettung in die Sendung

Böhmermann leitete in Folge 43 vom 31. März 2016 des Neo Magazin Royale mit dem Episodennamen Böhmerwie, Böhmerwo, Böhmerwann (vgl. Erdowie, Erdowo, Erdogan) seinen Gedichtsvortrag mit der Vorrede ein, es gebe „auch in Deutschland [und] in Mitteleuropa“ einen Unterschied zwischen „Satire und Kunst und Spaß“ einerseits und Schmähkritik andererseits, einen Unterschied, den Kabelka und er noch weiter erklärten.[1] Diese Erläuterung richtete Böhmermann an den Staatspräsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan,[1] dessen Außenministerium zuvor wegen des satirischen Liedes Erdowie, Erdowo, Erdogan der ARD-Sendung extra 3 über seine Regierungspolitik den deutschen Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, einbestellte und die deutsche Bundesregierung zur Löschung des Musikvideos aufforderte.[2]

Anhand eines „praktischen Beispiel[s]“ wolle er Erdoğan diesen Unterschied zwischen straffreier Satire und strafrechtlich relevanter Schmähkritik nun veranschaulichen.[1] Er wies zusammen mit Ralf Kabelka mehrmals darauf hin, dass das dann Folgende etwas sei, das man „nicht machen“ dürfe und dass der Fall einer öffentlichen Aufführung des folgenden Gedichts in Deutschland verboten sei.[1] Diese Hinweise gaben beide vor, während und nach dem Vortragen des Gedichts,[1] das vor dem Hintergrund der türkischen Staatsflagge, eines Fotos von Erdoğan und musikalisch untermalt durch eine „türkisch angehauchte Version“[3] des Nena-Liedes 99 Luftballons geschah. Das Gedicht wurde während des Vortragens durch Böhmermann simultan mit Untertiteln in türkischer Sprache übersetzt, die Vorrede und die Hinweise auf Verbot solcher Schmähkritik jedoch nicht.[1]

Nach dem Vortrag mutmaßten Kabelka und Böhmermann über die Folgen, „unter Umständen nimmt man es aus der Mediathek, das kann jetzt rausgeschnitten werden.“ Habe der türkische Präsident etwas gegen das Gedicht, hieß es weiter, „muss er sich in Deutschland erstmal einen Anwalt suchen“, damit der Fall „erstmal vor ’n Amtsgericht“ gehe, wo eine „einstweilige Verfügung, Unterlassungserklärung“ drohe.[3] Der Sender werde sich dann „wahrscheinlich“ dagegen wehren und „in drei, vier Jahren“ sei der Streit beigelegt.[3] „Wichtig“ sei für den direkt angesprochenen Erdoğan auch, „dafür [zu] sorgen, dass es nicht im Internet landet“, aber „das macht doch keiner“.[3]

Form und Inhalt

Das Gedicht hat 24 Zeilen im Paarreimschema; Strophen sind nicht zu erkennen.[4]

Das im Präsens verfasste Pamphlet ist eine Aneinanderreihung verschiedener vermeintlicher Paraphilien und derber Beleidigungen gegen Präsident Erdoğan, insbesondere seiner Sexualität. Darauf verweist auch der Titel Schmähkritik. Solche wurde im Vorhinein von Ralf Kabelka als Diffamieren, „einfach nur so untenrum argumentier[en]“, als Beschimpfen, nur auf Privates abzielend und jemanden herabsetzend charakterisiert.[3]

Es nennt Erdoğan „sackdoof, feige und verklemmt“ (V. 1); er habe ein „schlimm nach Döner“ riechendes „Gelöt“ (V. 3), das sogar einen „Schweinefurz“ (V. 4) übertreffe. Erdoğan sei „der Mann, der Mädchen schlägt / und dabei Gummimasken trägt“ (V. 5 f.). Er möge „am liebsten Ziegen ficken“ (V. 7) und das Unterdrücken von „Minderheiten“ (V. 8). Er misshandeleKurden“ und „Christen“ (V. 9), während er „Kinderpornos“ (V. 10) schaue. In Vers 11 und 12 heißt es, „statt [zu] schlafen“ habe er „Fellatio mit hundert Schafen“. Er sei „voll und ganz“ (V. 13) „ein Präsident mit kleinem Schwanz“ (V. 14), ferner, wie man jeden Türken „flöten“ (V. 15) höre, sei er eine „dumme Sau“ und habe „Schrumpelklöten“ (V. 16). Jeder in der Türkei wisse, Erdoğan sei „schwul“ sowie „pervers, verlaust und zoophil“ (V. 19). Das Gedicht stellt „Recep“ (V. 20) in eine Reihe mit den Straftätern Josef Fritzl und Wolfgang Přiklopil, behauptet Erdoğans Kopf sei so „leer wie seine Eier“ (V. 21), weiterhin sei er „der Star auf jeder Gangbangfeier“ (V. 22) und endet mit „bis der Schwanz beim Pinkeln brennt / das ist Recep Erdoğan, der türkische Präsident.“ (V. 23, 24)[4]

Offizielle Reaktionen

Zweites Deutsches Fernsehen

Das ZDF nahm am 1. April, dem Folgetag der Erstausstrahlung der Sendung, die Folge zunächst aus der Mediathek und stellte sie anschließend um den umstrittenen Abschnitt gekürzt wieder online.[5] Es begründete diesen Eingriff damit, dass „[d]ie Parodie […] zum Umgang des türkischen Präsidenten mit Satire […] nicht den Ansprüchen [entspricht], die das ZDF an die Qualität von Satiresendungen stellt.“[5] ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler führte aus, dass es auch bei Satire-Formaten, trotz „breiter Schultern“ hierbei, Grenzen gebe, die in diesem Fall „klar überschritten“ seien. Der Eingriff sei in Absprache mit Böhmermann geschehen und betreffe „das Sendungsvideo in der Mediathek, Clips auf Youtube sowie Wiederholungen“. Auch die Ausstrahlung der Wiederholung der Sendung am 1. April im ZDF-Hauptprogramm erfolgte um die Passage gekürzt.[5]

Am 4. April telefonierte der Intendant des ZDF, Thomas Bellut, mit dem türkischen Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslıoğlu, und bedauerte, dass der Beitrag Gefühle von Zuschauern verletzt habe.[6]

Am 11. April 2016 erklärte Bellut, dass er „natürlich zu den Satire-Sendungen, zu den Moderatoren und zu Herrn Böhmermann“ stehe, und plädierte dafür, dass ein kleiner Ausschnitt einer „längeren Satire-Sendung nicht so hoch gehoben wird“. Er sei erst auf die Sendung aufmerksam geworden, nachdem mehr als 2000 E-Mails und Anrufe beim ZDF eingegangen waren. Zu den Ermittlungen gegenüber Böhmermann erklärte er, dass es Aufgabe der Staatsanwaltschaft sei, den Strafanträgen nachzugehen. Weiterhin habe er volles Vertrauen in den Rechtsstaat Deutschland.[7]

Bundesregierung

Das deutsche Auswärtige Amt kam in einer internen Prüfung des Sachverhalts zum Schluss, dass das Gedicht vermutlich strafbar sei.[8]

In einem Telefongespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel das Werk „bewusst verletzend“ und verwies auf die schon unternommenen Maßnahmen des ZDF.[8] Dies wurde von Kritikern als vorverurteilend bezeichnet.[9] Auf die Frage, ob die Türkei ein Strafverlangen geltend mache, äußerte die Bundesregierung zunächst, dass dies nach dem Telefongespräch der Bundeskanzlerin weniger wahrscheinlich sei,[8] später, nachdem der türkische Präsident dies doch tat, kündigte sie eine Prüfung dieses Antrags und eine Entscheidung hierzu innerhalb der nächsten Tage an.[10] Der Pressesprecher der Bundesregierung, beamteter Staatssekretär Steffen Seibert, betonte für die Bundeskanzlerin an dieser Stelle den hohen Wert der Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.[11]

Türkische Regierung

Der türkische Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmuş nannte am 11. April 2016 in einer Rede in der südosttürkischen Stadt Şanlıurfa das Gedicht eine Beleidigung für das gesamte türkische Volk. Er dementierte, dass die Türkei politischen Druck auf die deutschen Behörden ausübe und warf Böhmermann ein „schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor.[12]

Strafverfahren

Die Staatsanwaltschaft Mainz erhielt nach der Ausstrahlung Anzeigen von Privatpersonen und nahm daraufhin Ermittlungen gegen Böhmermann wegen Verdachts auf Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten nach § 103 StGB auf.[8] Zur Beweissicherung forderte sie einen Mitschnitt der Sendung vom ZDF an.[8] Ferner unterrichtete sie das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und fragte an, ob seitens der Türkei ein Strafverlangen vorliege, das für eine etwaige diesbezügliche Anklage nach § 104a StGB neben einer Ermächtigung der Bundesregierung zur Strafverfolgung Bedingung ist. Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen Verantwortliche des ZDF, gegen die Anzeigen eingegangen seien.[8] Die Türkei machte in einer Verbalnote ihres Botschafters deutlich, dass sie eine Strafverfolgung verlange.[10]

Am 11. April 2016 stellte Erdoğan bei der Staatsanwaltschaft Mainz wegen Beleidigung (§ 185 StGB) einen Strafantrag (§ 194 StGB) gegen Böhmermann.[13][14] Erdoğan wird im Verfahren vertreten durch den Rechtsanwalt Michael-Hubertus von Sprenger.[15]

Stellungnahmen und Reaktionen Böhmermanns

Die folgende Ausgabe des Neo Magazin Royale wurde wie üblich am Mittwoch, 6. April aufgezeichnet und an den beiden Folgetagen im ZDF und auf ZDFneo, sowie in der ZDF-Mediathek ausgestrahlt. In der Sendung wurde die Affäre nicht thematisiert.[16]

Böhmermann und die das Neo Magazin Royale produzierende btf GmbH (Bildundtonfabrik) sagten am 8. April ihre Teilnahme an der Verleihung des Grimme-Preises 2016 ab. Böhmermann schrieb hierzu, er fühle sich „erschüttert in allem, an das ich je geglaubt habe“ und bitte um Verständnis dafür, nicht feiern zu wollen.[17]

Ebenfalls entfiel die Aufzeichnung Böhmermanns gemeinsamer Radiosendung Sanft & Sorgfältig mit Olli Schulz, welche am 10. April hätte gesendet werden sollen. Nach Angaben von Radio Eins war Böhmermann nicht in der Lage, eine Sendung zu produzieren.[18] Auf Böhmermanns Wunsch entfällt auch die nächste Ausgabe am 17. April. Als direkten Ersatz sendet radioeins eine Böhmermann-Solidaritätssendung vom Kanzleramt.[19]

Böhmermann wandte sich in einer privaten Nachricht im Kurznachrichtendienst Twitter an den Bundesminister und Kanzleramtschef Peter Altmaier und bat um „Berücksichtigung meines künstlerischen Ansatzes und meiner Position, auch wenn er streitbar ist“, wonach Böhmermann „gerne in einem Land leben [möchte], in dem das Erkunden der Grenze der Satire erlaubt, gewünscht und Gegenstand einer zivilgesellschaftlichen Debatte sein kann.“[17]

Böhmermann und Bildundtonfabrik gaben am 12. April bekannt, aufgrund der Berichterstattung und deren Fokus auf Moderator und Sendung die für den 14. April geplante Ausgabe nicht zu produzieren.[20] Am selben Tag gab die Kölner Polizei bekannt, Böhmermann unter besonderen Schutz zu stellen und die ihn erreichende Post auf gefährliche Inhalte zu untersuchen, da man einen Angriff nicht ausschließen könne.[21]

Rezeption

Deutschland

Deutsche Medien diskutieren die Sendung kontrovers. Das Gedicht wurde teilweise als geschmacklose Beleidigung kritisiert, von anderen Kommentatoren dagegen als legitime, unter dem Schutz des Grundgesetzes stehende Satire interpretiert und verteidigt.

Mehrere bekannte Persönlichkeiten stellten sich auf Böhmermanns Seite, darunter die Kabarettisten Serdar Somuncu und Dieter Hallervorden, der aus Anlass der Strafanzeige Erdoğans selbst ein Spottlied mit dem Titel Erdogan, zeig mich an veröffentlichte.[9][22]

Der ZDF-Moderator und Satiriker Oliver Welke sagte, in dem Fall habe sich ausschließlich die Kanzlerin schlecht verhalten. Man könne nicht zuerst nichts sagen zum Einbestellen des deutschen Botschafters in Ankara nach dem „Fall extra 3“ und sich dann quasi als oberste deutsche Fernsehkritikerin zu Böhmermann äußern („das geht gar nicht!“).[23]

Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, sah das Gedicht und dessen Präsentation als „Kunstwerk“ in der Tradition von Martin Kippenbergers Zuerst die Füße und machte sich das Gedicht ausdrücklich „in jeder juristischen Form zu eigen“.[24][25] Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, der 2015 selbst zweimal Opfer von Böhmermanns Satire wurde, verbreitete über Twitter: „Nachdem Europa seine Seele verloren hat (Flüchtlingsabkommen mit der Türkei), verliert es nun seinen Humor. Hände weg von Jan Böhmermann“.[26]

Das Satiremagazin Titanic verfasste in einer Solidaritätsbekundung ein Gedicht namens „Das Schmährkelgedicht“, das gegenüber der Bundeskanzlerin Angela Merkel in ähnlicher Weise beleidigend und diffamierend wirkt.[27] Martin Sonneborn, ehemaliger Chefredakteur der Titanic und Mitglied des Europäischen Parlaments für die Partei Die PARTEI, äußerte sich gegenüber dem Nachrichtensender N24 mit den Worten, „er glaube, dass dieser Fall ganz schnell an die deutsche Justiz verwiesen werden muss. Das sei der übliche Gang. Dort könne dann auch endlich Erdogans Umgang mit Ziegen geklärt werden.“ Er sehe in Erdogan einen „alternden Diktator“, der unter Realitätsverlust leide.[28]

Der Chefredakteur der Horizont, Uwe Vorkötter, wirft die Frage auf, ob Jan Böhmermann etwas anderes täte als das Magazin Charlie Hebdo, der Karikaturist Kurt Westergaard oder der Autor Salman Rushdie. Die Regierung sei für diese Affäre nicht zuständig, sondern das ZDF.[29] Auch der Tagesspiegel-Kommentator Jost Müller-Neuhof zieht einen solchen Vergleich und meint, dass Satire manchmal geltendes Recht brechen müsse, um zu wirken.[30]

Eine Redakteurin der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung schrieb, es gebe einen Trend bei zahlreichen überwiegend jungen Menschen, ihre politischen Informationen einzig aus satirischen Sendungen zu beziehen. Es sei offensichtlich, dass Satire nicht alles dürfe, viele allerdings nicht hinreichend differenzierten, um Grenzen erkennen zu können. Indem Erdoğan als Sodomit verunglimpft werde, sage der „Satiriker“, der sich auf der guten Seite wähne und glaube, die angeblich Bösen beschimpfen zu dürfen, letztlich mehr über sich als über die jeweils Kritisierten. Dies sei pubertär und habe mit Humor oder gar Politik nichts zu tun.[31]

FAZ-Herausgeber Berthold Kohler schrieb, auch der Fall Böhmermann zeige „überdeutlich, was für einen Potentaten und was für ein Regime die EU nach dem Willen der Kanzlerin zum Hüter ihrer Grenze gemacht hat. Ein stellvertretender türkischer Ministerpräsident wirft Böhmermann ein „schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor; das ist eine Anklage, die zum ersten Mal in den Nürnberger Prozessen erhoben wurde. Der Generation Comedy muss man wohl sagen: Das ist keine Satire, das ist bitterer politischer Ernst.“[32]

Der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler bewertete die Verse als „furchtbar schlecht“. Es handele sich um eine verunglückte Glosse, deren aufklärerischer Wert zu bezweifeln sei und die wegen ihrer Niveaulosigkeit nicht hätte gesendet werden dürfen. Böhmermann habe mit den Versen den eigentlichen Sinn einer Satire verfehlt und dem türkischen Präsidenten letztlich in die Hände gespielt, da dieser nun gerichtlich gegen die Dummheiten vorgehen könne. Indem Böhmermann lediglich mit rassistischen Stereotypen und Perversionen gespielt habe, sei Erdoğan persönlich nicht kenntlich gemacht und die eigentlichen Opfer seiner Politik vernachlässigt worden.[33]

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ist der Auffassung, Böhmermann habe mit den Versen ein Hybrid, die „Schmähsatire“, geschaffen, spricht von einem „Stück satirischer Genialität“ und sieht in der entstandenen Debatte die Bestätigung dafür.[34]

Der Jurist Reinhard Müller (FAZ) schreibt unter anderem: „Im Fall der Reime Jan Böhmermanns auf […] Erdogan ist wie stets der Kontext zu berücksichtigen. Erdogan hatte wegen eines satirischen Liedes auf ihn und seine Politik (nicht zuletzt gegenüber der Presse) den deutschen Botschafter einbestellt. Böhmermann setzte einen drauf […].“ Nach seiner Auffassung hätte Angela Merkel bei ihrem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten vor allem auf die Pressefreiheit hinweisen sollen, über deren Grenzen in einem Rechtsstaat unabhängige Gerichte zu befinden haben.[35]

Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) schreibt in einem Kommentar „Der Strafparagraf 103, der die Ehre von ausländischen Staatsoberhäuptern besonders schützt und der besonders markant straft, ist antiquiert, er ist überflüssig und albern; in ihm werden die Reste der alten Majestätsbeleidigung konserviert. […] Man soll diesen Paragrafen, der im Jargon „Schah-Paragraf“ heißt, abschaffen. Denn warum soll die Beleidigung eines Staatsmanns […] anders geahndet werden als die Beleidigung anderer Menschen? Diese Strafvorschrift ist ein Überrest aus obrigkeitsstaatlichen und monarchischen Zeiten. Die Strafvorschrift stammt aus dem 19. Jahrhundert; und da gehört sie auch hin.“[36] Thomas Oppermann, Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, plädiert für dessen Abschaffung.[37]

Der CDU-Politiker und Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, Ansgar Heveling, sieht die Kontroverse als eine Chance für die Außendarstellung Deutschlands: „Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, dass der unabhängigen Justiz die Möglichkeit gegeben wird, zu überprüfen, ob die Äußerungen von Herrn Böhmermann gegen den türkischen Präsidenten als Schmähkritik den Tatbestand der Beleidigung eines Staatsoberhauptes erfüllen“. „Eine solche Überprüfung wäre ein Signal dafür, dass wir solche Streitfragen unserer unabhängigen Justiz überlassen.“[38]

Die Fraktionschefin der Bundestagsfraktion der Linken, Sahra Wagenknecht, nannte Merkel einen „verlängerter Arm des türkischen Präsidenten Erdogan“, die sich nicht „schützend vor die grundgesetzlich verankerte Presse-, Meinungs- und Kunstfreiheit in Deutschland stell[t].“ Sie bezeichnete Böhmermann als einen „kritischen Künstler“, den es vor einer Strafverfolgung zu schützen gelte.[39]

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete und Vize-Fraktionsvorsitzende Konstantin von Notz sieht den Fall „auf dem Weg zu einer Staatsaffäre“. Das Handeln der Bundeskanzlerin sei unglücklich und erwecke den Anschein von Erpressbarkeit.[40]

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann setzt sich namens seiner Fraktion für die ersatzlose Streichung des in Rede stehenden § 103 StGB ein. Die Vorschrift gehe auf die Verfolgung der Majestätsbeleidigung zurück und sei antiquiert. Er stellte eine Änderung des Gesetzes in der nächsten Bundestagssitzungswoche in Aussicht.[41]

Die Petition „Freiheit für Böhmermann!“ bekam innerhalb von zwei Tagen mehr als 150.000 Unterschriften.[42]

Türkei

Am 2. April kam es vor dem Auslandsstudio des ZDF in Istanbul zu einer Demonstration von etwa 30 Personen gegen das Gedicht, bei der auch Eier auf die Gebäudefassade flogen und eine Entschuldigung des ZDF gefordert wurde.[8] Die türkische regierungsnahe Sabah titelte Wann geht Böhmermann?! und berichtete von Forderungen nach der Absetzung des Neo Magazin Royale. Auch andere türkische Medien äußerten sich kritisch.

Der türkische Illustrator und Karikaturist M.K. Perker findet die Affäre und die Reaktion darauf sehr lustig. Für ihn sei der Fall nichts Ungewöhnliches, da er strafrechtliche Verfolgung in der Türkei für die Beleidigung des Staatspräsidenten gewohnt sei. Tuncay Akgün, Chefredakteur des wöchentlichen Satiremagazins Leman findet die Affäre auf der einen Seite schockierend, auf der anderen Seite sei auch er an die Repressalien in der Türkei gewohnt. Beide sind sich einig, dass im Falle einer Verurteilung Jan Böhmermanns ein Signal für die Grenzen der Demokratie gesendet werde.[43]

In der türkischen Fernsehsendung Yaz Boz des Senders A-Haber, ausgestrahlt am 9. April, wurde diesbezüglich das ZDF-Studio in Mainz besucht; die Berichterstattung erfolgte allerdings dramatisiert und unsachlich.[44]

Einer dpa-Meldung zufolge spielt der Fall in der öffentlichen Diskussion aber nur eine untergeordnete Rolle, was auch daran liegen kann, „dass der beleidigende Inhalt des Schmähgedichts auch in der Türkei nicht wiedergegeben wird“.[45]

Wie es in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung heißt, sehen regierungsnahe Zeitungen wie die Sabah oder der Star das Gedicht als „Pornofantasie“. Auffallend sei es weiter, dass deutsche Medien diese „Erniedrigung“ mit der Pressefreiheit verteidigen würden. Die als regierungskritisch eingestufte Zeitung Cumhuriyet beleuchtet Merkels Entscheidungsdilemma bezüglich der Ermächtigung zur Strafverfolgung.[46]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f Stefan Niggemeier: Böhmermanns Satireschmäh. In: Übermedien. 3. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  2. Satire gegen Erdogan: Türkei verlangte offenbar Löschung des „extra 3“-Videos. In: Spiegel Online. 29. März 2016, abgerufen am 30. März 2016.
  3. a b c d e Neo Magazin Royale mit Jan Böhmermann vom 31.03.2016 (ungeschnitten). In: Neo Magazin Royale. 31. März 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  4. a b Jan Böhmermann: Schmähkritik. 31. März 2016. Zitiert nach: Schmähgedicht auf Erdogan: Staatsaffäre Böhmermann - die Fakten. In: Spiegel Online, 12. April 2016.
  5. a b c ZDF entfernt Erdogan-Schmähgedicht aus Mediathek. In: Neue Osnabrücker Zeitung. 1. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  6. ZDF-Intendant sprach nach Böhmermanns Gedicht mit Türkei-Botschafter. In: volksfreund.de. 8. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  7. Bellut: ZDF steht zu Satire-Sendungen. In: heute.de. ZDF, 11. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  8. a b c d e f g Stephan Haselberger, Hans Monath, Robert Klages: Staatsanwaltschaft ermittelt auch gegen ZDF-Verantwortliche. In: tagesspiegel.de. 7. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  9. a b Gaby Reucher: Ein Fall, der noch kein Fall ist: Reaktionen zu Böhmermanns Erdogan-Satire. In: Deutsche Welle. 11. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  10. a b Türkei will Böhmermann vor Gericht. In: swr.de. 10. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  11. Beitrag der Facebook-Redaktion der Bundesregierung. In: Facebook-Auftritt der deutschen Bundesregierung. 11. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  12. Erdoğan stellt offiziell Strafantrag gegen Böhmermann. In: Zeit Online. 11. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  13. Tagesschau, 11.04.16
  14. Strafantrag des Präsidenten der Türkei gegen Jan Böhmermann. In: Internetseite des Ministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz'. Staatsanwaltschaft Mainz, 11. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  15. Böhmermann steht unter Polizeischutz. FAZ, 12. April 2016.
  16. Böhmermann in „Neo Magazin Royale“: Kein Wort zu Erdogan. In: Spiegel Online. 8. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  17. a b Was ist los mit Böhmermann? In: faz.net. 8. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  18. Causa @janboehm #sanftundsorgfaeltig. In: Twitter. 11. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  19. Programmhinweis: Freiheit für Böhmermann! In: Radio Eins. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  20. Facebookpost des Neo Magazin Royale. In: Neo Magazin Royale - Auftritt auf Facebook. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  21. Böhmermann steht unter Polizeischutz. In: Die Welt. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  22. Nach Erdogan-Gedicht - Böhmermann steht unter Polizeischutz. In: Deutschlandfunk. Abgerufen am 12. April 2016 (deutsch).
  23. "Auf dem Weg zu einer Staatsaffäre". In: zeit.de. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  24. Schmähgedicht-Affäre: Springer-Chef fordert „Solidarität mit Jan Böhmermann!“ In: Spiegel Online. 10. April 2016, abgerufen am 11. April 2016.
  25. Mathias Döpfner: Solidarität mit Jan Böhmermann! In: Welt Online. 10. April 2016, abgerufen am 10. April 2016.
  26. Reaktionen im Satirestreit: Varoufakis solidarisiert sich mit Böhmermann Spiegel Online, 11. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  27. Titanic: Achtung, "keine" "Satire" – Das Schmährkelgedicht – TITANIC – Das endgültige Satiremagazin. In: titanic-magazin.de. 5. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  28. Martin Sonneborn zum Fall Böhmermann: "Merkel übertrifft den Irren vom Bosporus" - N24.de. In: n24.de. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  29. Eine ZDF-Affäre, keine Staatsaffäre, Uwe Vorkötter für Horizont, 6. April 2016
  30. Der beste Witz, das sind wir selbst, Der Tagesspiegel, 8. April 2016
  31. Friederike Haupt: Böhmermann und Co. Pubertär statt politisch. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. , abgerufen Format invalid.
  32. FAZ.net 12. April 2016: Das ist keine Satire, das ist bitterer Ernst
  33. Böhmermann hat nicht begriffen, was Satire ist – Bernd Gäbler im Gespräch mit Christiane Kaess [1] Deutschlandfunk vom 12. April 2016
  34. Das Erste: Video „Streit um Erdogan-Kritik – Kuscht die Bundesregierung vor der Türkei?“ – Anne Will. In: ARD Mediathek. Abgerufen am 11. April 2016 (deutsch).
  35. FAZ.net 11. April 2016: Satire ist frei, aber kein Freibrief
  36. sueddeutsche.de: Weg mit dem Schah-Paragrafen
  37. spiegel.de 12. April 2016: Böhmermann-Affäre: "Relikt aus Zeiten der unseligen Majestätsbeleidigung"
  38. Reinhold Michels, Eva Quadbeck: Eine Frage der Freiheit. Der Fall Jan Böhmermann. In: RP Online. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  39. Sahra Wagenknecht: Merkel darf Böhmermann nicht opfern. In: linksfraktion.de. 11. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  40. Böhmermann-Gedicht: "Auf dem Weg zu einer Staatsaffäre". In: swr.de. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  41. SPD will umstrittenes Beleidigungsverbot streichen. In: Frankfurter Rundschau. 12. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  42. Petition: „Freiheit für Böhmermann!“ 10. April 2016, abgerufen am 12. April 2016.
  43. Türkische Satiriker zum Fall Böhmermann. In: DW.COM. Abgerufen am 12. April 2016.
  44. Leon Scherfig: Wie ein türkischer Reporter vor ZDF-Zentrale Streit sucht. In: WAZ. Abgerufen am 12. April 2016.
  45. Türkischer Sender berichtet „So weit ist es mit der Pressefreiheit gekommen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 12. April 2016, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 12. April 2016]).
  46. Markus Mayr, Hanna Spanhel: Erdoğan-Schmähung: Wie türkische Medien auf Böhmermanns Gedicht reagieren. In: sueddeutsche.de. ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 12. April 2016]).