„Notverordnung“ – Versionsunterschied

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== Deutschland ==
== Deutschland ==
=== Weimarer Reichsverfassung ===
=== Weimarer Reichsverfassung ===
{{Anker|Artikel 48 Weimarer Reichsverfassung}} Wortlaut des Artikels 48 der Reichsverfassung
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{{Gesetzestext|''(1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.''<br />
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[[Datei:Weimar Constitution.jpg|mini|Bucheinband der Weimarer Verfassung]]
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Die Begriffe ''Notverordnung'' und ''Notverordnungsrecht'' selbst werden in Artikel&nbsp;48 WRV nicht genannt. Der Artikel gibt dem [[Reichspräsident]]en weitreichende Möglichkeiten zur Regierung im [[Ausnahmezustand]] (siehe [[Präsidialkabinett]]).
Die Begriffe ''Notverordnung'' und ''Notverordnungsrecht'' selbst werden in Artikel&nbsp;48 WRV nicht genannt. Der Artikel gibt dem [[Reichspräsident]]en weitreichende Möglichkeiten zur Regierung im [[Ausnahmezustand]] (siehe [[Präsidialkabinett]]).
Während in Absatz&nbsp;1 des Artikels&nbsp;48 WRV die [[Reichsexekution#Reichsexekution im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik|Reichsexekution]] geregelt ist (d.&nbsp;h. Maßnahmen gegen die Länder des Reichs), verleiht Absatz&nbsp;2 dem Reichspräsidenten außerordentliche Kompetenzen für den Ausnahmezustand. Daraus wurde in der [[Verfassung]]spraxis das Recht hergeleitet, formelle Verordnungen mit materieller Gesetzeskraft zu erlassen.
Während in Absatz&nbsp;1 des Artikels&nbsp;48 WRV die [[Reichsexekution#Reichsexekution im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik|Reichsexekution]] geregelt ist (d.&nbsp;h. Maßnahmen gegen die Länder des Reichs), verleiht Absatz&nbsp;2 dem Reichspräsidenten außerordentliche Kompetenzen für den Ausnahmezustand. Daraus wurde in der [[Verfassung]]spraxis das Recht hergeleitet, formelle Verordnungen mit materieller Gesetzeskraft zu erlassen.
Die Verfassung sah für die Ausnahmebefugnisse eine Konkretisierung durch ein Ausführungsgesetz vor (Art.&nbsp;48 Abs.&nbsp;5). Da dieses aber nie erlassen wurde, blieben jene Befugnisse sehr weit und unbestimmt.


Die Verfassung sah für die [[Ausnahmezustand|Ausnahmebefugnisse]] eine Konkretisierung durch ein Ausführungsgesetz vor, zu dem Art.&nbsp;48 Abs.&nbsp;5 WRV ermächtigte. 1926 legte das [[Reichsministerium des Innern]] unter [[Wilhelm Külz]] ([[Deutsche Demokratische Partei|DDP]]) einen Entwurf für ein solches Reichsgesetz vor. Inhaltlich wurde die Notstandsgewalt an die bestehenden [[Weimarer Verfassung#Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen|Grundrechte]] gebunden und die zivile Mitarbeit an der Ausnahmegewalt gestärkt, denn es wurden den militärischen Kommandeuren zivile Beauftragte an die Seite gestellt. Die nach Notstandsrecht erlassenen Anordnungen bedurften der doppelten [[Gegenzeichnung]] durch den [[Reichskanzler]] und den [[Reichsministerium des Innern|Reichsinnenminister]]. Im Fall einer Reichsexekution gegen ein Land war zudem der [[Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich|Staatsgerichtshof]] anzurufen. Im [[Reichswehrministerium]] stieß die Gesetzesvorlage auf Widerstand, vornehmlich aber beim Reichspräsidenten [[Paul von Hindenburg]], der seine Machtfülle gefährdet sah. Die Vorlage wurde dem Reichstag konsequenterweise nicht vorgelegt. Dessen Befugnisse blieben daher sehr weit und unbestimmt.<ref>[[Hans Boldt]]: ''Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. Sein historischer Hintergrund und seine historische Funktion''. In: [[Michael Stürmer]] (Hrsg.): ''Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas.'' 2., erw. Auflage, Athenäum, Königstein/Ts. 1985 (1980), ISBN 3-7610-7254-6, S. 288–309, hier S. 297.</ref>
Die Befugnisse aus Artikel&nbsp;48 wurden durch die inhaltliche Unbestimmtheit stark von einer konkreten Regierungspraxis, von Entscheidungen des [[Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich|Staatsgerichtshofs]] und der herrschenden [[Lehrmeinung]] der [[Staatsrechtler]] geprägt. Die [[Herrschende Meinung|herrschende staatsrechtliche Meinung]], u.&nbsp;a. von [[Gerhard Anschütz]] vertreten, billigte dem Reichspräsidenten die Befugnis zum Erlass gesetzesvertretender Notverordnungen zu. Die abweichende Minderheitsmeinung, vertreten vor allem von [[Carl Schmitt]], [[Erwin Jacobi (Jurist)|Erwin Jacobi]] und [[Hermann Heller (Jurist)|Hermann Heller]], konnte sich nicht durchsetzen und wurde ausdrücklich aufgegeben.


Die Befugnisse aus Artikel&nbsp;48 WRV wurden letztlich stark von konkreter Regierungspraxis, durch Entscheidungen des Staatsgerichtshofs und durch die herrschende [[Lehrmeinung]] der [[Staatsrecht (Deutschland)|Staatsrechtler]] geprägt. Die [[Herrschende Meinung|herrschende staatsrechtliche Meinung]], u.&nbsp;a. von [[Gerhard Anschütz]] vertreten, billigte dem Reichspräsidenten die Befugnis zum Erlass gesetzesvertretender Notverordnungen zu. Die abweichende Mindermeinung, die dem Reichspräsidenten diese Befugnis nicht einzuräumen gedachte, vertreten wurde sie vor allem von bedeutenden Staatsrechtslehrern wie [[Carl Schmitt]], [[Erwin Jacobi (Jurist)|Erwin Jacobi]] und [[Hermann Heller (Jurist)|Hermann Heller]], konnte sich dagegen nicht durchsetzen und wurde ausdrücklich aufgegeben.<!-- Anschütz war gemäßigter Positivist, Schmitt war Dezisionist; irgendetwas stimmt hier mit der Zuteilung nicht, bitte prüfen. -->
Die [[Nationalversammlung (Weimar)|Nationalversammlung]] knüpfte bezüglich des Wortlauts des Art.&nbsp;48 Abs.&nbsp;2 WRV mit dem [[tatbestand]]lichen Begriff einer „erheblichen [[Störer|Störung]] oder [[Gefahrenabwehr|Gefährdung]] der [[Öffentliche Sicherheit|öffentlichen Sicherheit]] und [[Öffentliche Ordnung|Ordnung]]“ an die bereits im [[Deutsches Kaiserreich|Kaiserreich]] gefestigte [[Polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel|polizeirechtliche Generalklausel]] an. Die Begriffe gehen als ''[[termini technici]]'' auf das [[Paragraph 10 II 17 ALR|Allgemeine Preußische Landrecht]] zurück. Jedoch kam es niemals dazu, dass der [[verfassungsrecht]]liche Begriff judikativ oder gesetzlich in diesem Sinne verbindlich definiert wurde.


Die [[Nationalversammlung (Weimar)|Nationalversammlung]] knüpfte bezüglich des Wortlauts des Art.&nbsp;48 Abs.&nbsp;2 WRV mit dem [[tatbestand]]lichen Begriff einer „erheblichen [[Störer|Störung]] oder [[Gefahrenabwehr|Gefährdung]] der [[Öffentliche Sicherheit|öffentlichen Sicherheit]] und [[Öffentliche Ordnung|Ordnung]]“ an die bereits im [[Deutsches Kaiserreich|Kaiserreich]] gefestigte [[Polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel|polizeirechtliche Generalklausel]] an. Die Begriffe sind bis heute ''[[termini technici]]'' und gehen auf das [[Paragraph 10 II 17 ALR|Allgemeine Preußische Landrecht]] zurück. Obwohl [[verfassungsrecht]]licher Begriff, wurde er weder judikativ noch legislativ verbindlich definiert.
Ursprünglich war nur an wirkliche Ausnahmesituationen gedacht worden; mit der zunehmenden Handlungsunfähigkeit des [[Reichstag (Weimarer Republik)|Deutschen Reichstags]] entstand die politische Neigung, dieses Recht des Präsidenten als Ersatzgesetzgebung zu verwenden. Bereits unter [[Friedrich Ebert]] wurde dieses Instrument angewandt, so zum Beispiel am 9.&nbsp;November 1923 anlässlich des [[Hitler-Putsch]]s.<ref>[[Detlev Peukert|Detlev J. K. Peukert]]: ''Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne'' (=&nbsp;''Edition Suhrkamp'' 1282 =&nbsp;N.F. Bd. 282, ''Neue historische Bibliothek''). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-11282-1, S.&nbsp;84.</ref> Vor allem aber kam es zum Einsatz, nachdem am 27.&nbsp;März 1930 die [[Große Koalition]] zerbrochen und die [[Kabinett Müller II|Regierung Müller]] zurückgetreten war. Von da an gab es keine Regierung mehr, die sich auf eine Mehrheit im [[Parlament]] hätte stützen können; der [[Reichskanzler]] wurde seither ohne Berücksichtigung des Reichstags nur noch durch den [[Reichspräsidentenwahl 1925|1925 erstmals gewählten]] Reichspräsidenten [[Paul von Hindenburg]] ernannt: zunächst [[Heinrich Brüning]], später [[Franz von Papen]], [[Kurt von Schleicher]] und schließlich [[Adolf Hitler]]. Mit den sogenannten [[Präsidialkabinett]]en wurde ein Bruch mit dem [[Parlamentarismus]] in Kauf genommen. Der Anteil der Notverordnungen an der (faktischen) [[Gesetzgebung]] stieg seit 1930 erheblich an. 1931 standen 34 vom Reichstag verabschiedeten [[Gesetz]]en 44 Notverordnungen gegenüber.


Ursprünglich sollte die Notverordnungen tatsächlichen Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben. Die zunehmende Handlungsunfähigkeit des [[Reichstag (Weimarer Republik)|Deutschen Reichstags]] führte zum politischen Kalkül, die rechtlichen Kompetenzen des Reichspräsidenten als Ersatzgesetzgebung zu nutzen. Art.&nbsp;48 WRV wurde insoweit bereits unter [[Friedrich Ebert]] angewandt, so zum Beispiel am 9.&nbsp;November 1923 anlässlich des [[Hitler-Putsch]]s.<ref>[[Detlev Peukert|Detlev J. K. Peukert]]: ''Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne'' (=&nbsp;''Edition Suhrkamp'' 1282 =&nbsp;N.F. Bd. 282, ''Neue historische Bibliothek''). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-11282-1, S.&nbsp;84.</ref> Prominentester Einsatz war dann aber der 27.&nbsp;März 1930, an dem die [[Große Koalition]] zerbrach und die [[Kabinett Müller II|Regierung Müller]] zum Rücktritt gezwungen war. Ab diesem Zeitpunkt gab es keine Regierung mehr, die sich auf eine Mehrheit im [[Parlament]] hätte stützen können; ohne Berücksichtigung des Reichstags wurde der Reichskanzler seither nur noch durch den [[Reichspräsidentenwahl 1925|1925 erstmals gewählten]] Reichspräsidenten Hindenburg ernannt: die drei folgenden [[Präsidialkabinett]]e waren zunächst die [[Heinrich Brüning]]s, später [[Franz von Papen]]s und [[Kurt von Schleicher]]s. Schließlich folgte [[Adolf Hitler]]. Mit den Präsidialkabinetten wurde ein Bruch mit dem [[Parlamentarismus]] in Kauf genommen. Der Anteil der Notverordnungen an der (faktischen) [[Gesetzgebung]] stieg seit 1930 erheblich an. 1931 standen 34 vom Reichstag verabschiedeten [[Gesetz]]en 44 Notverordnungen gegenüber.
Dennoch konnte der [[Reichstag (Weimarer Republik)|Reichstag]] [[Regierung]]en stürzen und die Aufhebung von Notverordnungen verlangen. In Brünings Regierungszeit verhinderten dies nicht nur Regierungsparteien wie das [[Deutsche Zentrumspartei|Zentrum]], sondern auch die [[Opposition (Politik)|oppositionelle]] [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands|SPD]]. Ab der [[Amtszeit]] Franz von Papen hingegen war auch die SPD für die Bekämpfung der [[Reichsregierung]], sodass Hindenburg das Parlament zweimal auflösen ließ, um der Außerkraftsetzung von Notverordnungen zuvorzukommen. Letzten Endes gab er 1933 Papens Drängen nach, eine [[Koalitionsregierung]] unter [[Adolf Hitler|Hitler]] einzusetzen.

Dennoch konnte der Reichstag [[Reichsregierung|Regierungen]] stürzen und die Aufhebung von Notverordnungen verlangen. In Brünings Regierungszeit verhinderten dies nicht nur Regierungsparteien wie das [[Deutsche Zentrumspartei|Zentrum]], sondern auch die [[Opposition (Politik)|oppositionelle]] [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands|SPD]]. Ab der [[Amtszeit]] Franz von Papen hingegen war auch die SPD für die Bekämpfung der Reichsregierung, sodass Hindenburg das Parlament zweimal auflösen ließ, um der Außerkraftsetzung von Notverordnungen zuvorzukommen. Letzten Endes gab er 1933 Papens Drängen nach, eine [[Koalitionsregierung]] unter Hitler einzusetzen.

Die [[Verordnung des Reichspräsidenten gegen politischen Terror]] galt vom 9. August 1932 bis Dezember 1932.


=== Anwendung im „Dritten Reich“ ===
=== Anwendung im „Dritten Reich“ ===
Auch während der NS-Herrschaft wurde Art. 48 Abs. 2 angewandt. Er spielte vor allem in den ersten Wochen nach der Ernennung Hitlers eine wichtige Rolle; später verlor er aufgrund des [[Ermächtigungsgesetz]]es an Bedeutung. Die folgenreichste Notverordnung war die sogenannte [[Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat|Reichstagsbrandverordnung]] vom 28. Februar 1933. Auf der Grundlage des Art.&nbsp;48 Abs.&nbsp;2 („Maßnahmen bei Störung von Sicherheit und Ordnung“) setzte sie wesentliche [[Grundrecht]]e außer Kraft und übertrug Befugnisse des Reichspräsidenten auf die neue Reichsregierung unter Hitler.<ref>[[Richard J. Evans]]: ''Das Dritte Reich.'' Band 1: ''Aufstieg.'' Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, ISBN 3-421-05652-8, S.&nbsp;443&nbsp;f.</ref> Die Notverordnung wurde damit zur [[Rechtsnorm|normativen]] Grundlage der [[Zeit des Nationalsozialismus|nationalsozialistischen Diktatur]], zum „Freibrief des Dritten Reiches“.<ref>[[Ian Kershaw]]: ''Hitler. 1889–1936.'' Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, ISBN 3-421-05131-3, S.&nbsp;582.</ref> Dennoch galt auch nach dem Einsatz von Art. 48 Abs. 2 weiterhin offiziell die [[Weimarer Reichsverfassung]].
Auch während der NS-Herrschaft wurde Art. 48 Abs. 2 angewandt. Er spielte vor allem in den ersten Wochen nach der Ernennung Hitlers eine wichtige Rolle; nach dem [[Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933]] verlor er an Bedeutung. Zuvor war die sogenannte [[Reichstagsbrandverordnung]] vom 28. Februar 1933 erlassen worden. Auf der Grundlage des Art.&nbsp;48 Abs.&nbsp;2 („Maßnahmen bei Störung von Sicherheit und Ordnung“) setzte sie wesentliche [[Grundrecht]]e außer Kraft und übertrug Befugnisse des Reichspräsidenten auf die neue Reichsregierung unter Hitler.<ref>[[Richard J. Evans]]: ''Das Dritte Reich.'' Band 1: ''Aufstieg.'' Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, ISBN 3-421-05652-8, S.&nbsp;443&nbsp;f.</ref> Die Notverordnung wurde damit zur [[Rechtsnorm|normativen]] Grundlage der [[Zeit des Nationalsozialismus|nationalsozialistischen Diktatur]], zum „Freibrief des Dritten Reiches“.<ref>[[Ian Kershaw]]: ''Hitler. 1889–1936.'' Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, ISBN 3-421-05131-3, S.&nbsp;582.</ref> Dennoch galt auch nach dem Einsatz von Art. 48 Abs. 2 weiterhin offiziell die [[Weimarer Reichsverfassung]].


=== Notverordnungen in der Bundesrepublik ===
=== Notverordnungen in der Bundesrepublik ===


Der Artikel 119 des [[Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland|Grundgesetzes]] erlaubte der Bundesregierung, Notverordnungen in Flüchtlingsangelegenheiten zu erlassen ("Verordnungen mit Gesetzeskraft", zeitgenössisch tatsächlich auch Notverordnungen genannt<ref>vgl. die Bundestags-Plenarprotokolle<!-- Ja, das ginge noch genauer. !--></ref>). Diese Befugnis war eine Übergangsbestimmung, da das Themengebiet zu dringlich war, um auf das [[Bundesvertriebenengesetz]] zu warten, und besteht seit dessen Inkrafttreten nicht mehr. – Im übrigen kennt die bundesdeutsche Verfassungsordnung keine Notverordnungen; Gesetze des Bundesrates im [[Gesetzgebungsnotstand]] und solche des Gemeinsamen Ausschusses im [[Verteidigungsfall (Deutschland)|Verteidigungsfall]] werden als "Gesetze" bezeichnet, wenngleich sie ebenfalls bestimmten Beschränkungen unterliegen.
Der Artikel 119 des [[Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland|Grundgesetzes]] erlaubte der Bundesregierung, Notverordnungen in Flüchtlingsangelegenheiten zu erlassen („Verordnungen mit Gesetzeskraft“, zeitgenössisch tatsächlich auch Notverordnungen genannt<ref>vgl. die Bundestags-Plenarprotokolle<!-- Ja, das ginge noch genauer. !--></ref>). Diese Befugnis war eine Übergangsbestimmung, da das Themengebiet zu dringlich war, um auf das [[Bundesvertriebenengesetz]] zu warten, und besteht seit dessen Inkrafttreten nicht mehr. – Im übrigen kennt die bundesdeutsche Verfassungsordnung keine Notverordnungen; Gesetze des Bundesrates im [[Gesetzgebungsnotstand]] und solche des Gemeinsamen Ausschusses im [[Verteidigungsfall (Deutschland)|Verteidigungsfall]] werden als „Gesetze“ bezeichnet, wenngleich sie ebenfalls bestimmten Beschränkungen unterliegen.


== Österreich ==
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== Schweiz ==
== Schweiz ==
{{Hauptartikel|Notrecht#Konstitutionelles Notverordnungsrecht des Bundesrates und der Bundesversammlung|Verordnung (Schweiz)#Polizeinotverordnungen und Verordnungen zur Wahrung der äusseren Interessen der Schweiz}}
{{Hauptartikel|Notrecht|Verordnung (Schweiz)}}
Der [[Bundesrat (Schweiz)|Bundesrat]] kann Verordnungen (Notverordnungen) und [[Verfügung]]en (Notverfügungen) erlassen, um Gefahren, die die öffentliche Ordnung oder die innere oder äußere Sicherheit gefährden könnten, abwenden zu können ({{Art.|185|BV|ch}} Abs. 3 BV). Solche Verordnungen sind zu befristen (Art.&nbsp;185 Abs.&nbsp;3 BV; siehe auch {{Art.|7d|RVOG|ch}} RVOG). Damit der Bundesrat Verordnungen dieser Art erlassen kann, müssen abgesehen von den allgemeinen Schranken staatlichen Handelns (wie [[Verhältnismäßigkeitsprinzip|Verhältnismäßigkeit]] und [[öffentliches Interesse]]) gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. So muss die öffentliche Ordnung in bedeutendem Masse gestört oder unmittelbar durch eine ernsthafte Gefahr bedroht sein. Es muss zudem eine zeitliche und sachliche [[Dringlichkeitsrecht (Schweiz)|Dringlichkeit]] vorliegen, die den Erlass entsprechender Vorschriften im ordentlichen [[Gesetzgebungsverfahren (Schweiz)|Gesetzgebungsverfahren]] ausschließt (siehe auch: [[Notrecht]]).<ref name=":1">{{Literatur |Autor=Giovanni Biaggini |Titel=BV Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft |Auflage=2. |Verlag=Orell Füssli Verlag |Ort=Zürich |Datum=2017 |ISBN=978-3-280-07320-9 |Seiten=1401 f.}}</ref>


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==

Aktuelle Version vom 10. Juni 2024, 09:29 Uhr

Als Notverordnung wird die gesetzesvertretende Anordnung der Exekutivgewalt im Krisenfall bezeichnet. In vielen historischen und gegenwärtigen Verfassungen sind solche Instrumente regulär vorgesehen. Sind sie dagegen nicht von der bestehenden Rechtsordnung gedeckt, handelt es sich um Rechtsbruch (Verfassungskrise).

Im deutschen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff zumeist auf die Weimarer Reichsverfassung (WRV).

Weimarer Reichsverfassung

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Wortlaut des Artikels 48 der Reichsverfassung

(1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten.
(2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.
(3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen.
(4) Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder des Reichstages außer Kraft zu setzen.
(5) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.

Anwendung in der Weimarer Republik

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Bucheinband der Weimarer Verfassung

Die Begriffe Notverordnung und Notverordnungsrecht selbst werden in Artikel 48 WRV nicht genannt. Der Artikel gibt dem Reichspräsidenten weitreichende Möglichkeiten zur Regierung im Ausnahmezustand (siehe Präsidialkabinett). Während in Absatz 1 des Artikels 48 WRV die Reichsexekution geregelt ist (d. h. Maßnahmen gegen die Länder des Reichs), verleiht Absatz 2 dem Reichspräsidenten außerordentliche Kompetenzen für den Ausnahmezustand. Daraus wurde in der Verfassungspraxis das Recht hergeleitet, formelle Verordnungen mit materieller Gesetzeskraft zu erlassen.

Die Verfassung sah für die Ausnahmebefugnisse eine Konkretisierung durch ein Ausführungsgesetz vor, zu dem Art. 48 Abs. 5 WRV ermächtigte. 1926 legte das Reichsministerium des Innern unter Wilhelm Külz (DDP) einen Entwurf für ein solches Reichsgesetz vor. Inhaltlich wurde die Notstandsgewalt an die bestehenden Grundrechte gebunden und die zivile Mitarbeit an der Ausnahmegewalt gestärkt, denn es wurden den militärischen Kommandeuren zivile Beauftragte an die Seite gestellt. Die nach Notstandsrecht erlassenen Anordnungen bedurften der doppelten Gegenzeichnung durch den Reichskanzler und den Reichsinnenminister. Im Fall einer Reichsexekution gegen ein Land war zudem der Staatsgerichtshof anzurufen. Im Reichswehrministerium stieß die Gesetzesvorlage auf Widerstand, vornehmlich aber beim Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der seine Machtfülle gefährdet sah. Die Vorlage wurde dem Reichstag konsequenterweise nicht vorgelegt. Dessen Befugnisse blieben daher sehr weit und unbestimmt.[1]

Die Befugnisse aus Artikel 48 WRV wurden letztlich stark von konkreter Regierungspraxis, durch Entscheidungen des Staatsgerichtshofs und durch die herrschende Lehrmeinung der Staatsrechtler geprägt. Die herrschende staatsrechtliche Meinung, u. a. von Gerhard Anschütz vertreten, billigte dem Reichspräsidenten die Befugnis zum Erlass gesetzesvertretender Notverordnungen zu. Die abweichende Mindermeinung, die dem Reichspräsidenten diese Befugnis nicht einzuräumen gedachte, vertreten wurde sie vor allem von bedeutenden Staatsrechtslehrern wie Carl Schmitt, Erwin Jacobi und Hermann Heller, konnte sich dagegen nicht durchsetzen und wurde ausdrücklich aufgegeben.

Die Nationalversammlung knüpfte bezüglich des Wortlauts des Art. 48 Abs. 2 WRV mit dem tatbestandlichen Begriff einer „erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ an die bereits im Kaiserreich gefestigte polizeirechtliche Generalklausel an. Die Begriffe sind bis heute termini technici und gehen auf das Allgemeine Preußische Landrecht zurück. Obwohl verfassungsrechtlicher Begriff, wurde er weder judikativ noch legislativ verbindlich definiert.

Ursprünglich sollte die Notverordnungen tatsächlichen Ausnahmesituationen vorbehalten bleiben. Die zunehmende Handlungsunfähigkeit des Deutschen Reichstags führte zum politischen Kalkül, die rechtlichen Kompetenzen des Reichspräsidenten als Ersatzgesetzgebung zu nutzen. Art. 48 WRV wurde insoweit bereits unter Friedrich Ebert angewandt, so zum Beispiel am 9. November 1923 anlässlich des Hitler-Putschs.[2] Prominentester Einsatz war dann aber der 27. März 1930, an dem die Große Koalition zerbrach und die Regierung Müller zum Rücktritt gezwungen war. Ab diesem Zeitpunkt gab es keine Regierung mehr, die sich auf eine Mehrheit im Parlament hätte stützen können; ohne Berücksichtigung des Reichstags wurde der Reichskanzler seither nur noch durch den 1925 erstmals gewählten Reichspräsidenten Hindenburg ernannt: die drei folgenden Präsidialkabinette waren zunächst die Heinrich Brünings, später Franz von Papens und Kurt von Schleichers. Schließlich folgte Adolf Hitler. Mit den Präsidialkabinetten wurde ein Bruch mit dem Parlamentarismus in Kauf genommen. Der Anteil der Notverordnungen an der (faktischen) Gesetzgebung stieg seit 1930 erheblich an. 1931 standen 34 vom Reichstag verabschiedeten Gesetzen 44 Notverordnungen gegenüber.

Dennoch konnte der Reichstag Regierungen stürzen und die Aufhebung von Notverordnungen verlangen. In Brünings Regierungszeit verhinderten dies nicht nur Regierungsparteien wie das Zentrum, sondern auch die oppositionelle SPD. Ab der Amtszeit Franz von Papen hingegen war auch die SPD für die Bekämpfung der Reichsregierung, sodass Hindenburg das Parlament zweimal auflösen ließ, um der Außerkraftsetzung von Notverordnungen zuvorzukommen. Letzten Endes gab er 1933 Papens Drängen nach, eine Koalitionsregierung unter Hitler einzusetzen.

Die Verordnung des Reichspräsidenten gegen politischen Terror galt vom 9. August 1932 bis Dezember 1932.

Anwendung im „Dritten Reich“

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Auch während der NS-Herrschaft wurde Art. 48 Abs. 2 angewandt. Er spielte vor allem in den ersten Wochen nach der Ernennung Hitlers eine wichtige Rolle; nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 verlor er an Bedeutung. Zuvor war die sogenannte Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 erlassen worden. Auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 2 („Maßnahmen bei Störung von Sicherheit und Ordnung“) setzte sie wesentliche Grundrechte außer Kraft und übertrug Befugnisse des Reichspräsidenten auf die neue Reichsregierung unter Hitler.[3] Die Notverordnung wurde damit zur normativen Grundlage der nationalsozialistischen Diktatur, zum „Freibrief des Dritten Reiches“.[4] Dennoch galt auch nach dem Einsatz von Art. 48 Abs. 2 weiterhin offiziell die Weimarer Reichsverfassung.

Notverordnungen in der Bundesrepublik

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Der Artikel 119 des Grundgesetzes erlaubte der Bundesregierung, Notverordnungen in Flüchtlingsangelegenheiten zu erlassen („Verordnungen mit Gesetzeskraft“, zeitgenössisch tatsächlich auch Notverordnungen genannt[5]). Diese Befugnis war eine Übergangsbestimmung, da das Themengebiet zu dringlich war, um auf das Bundesvertriebenengesetz zu warten, und besteht seit dessen Inkrafttreten nicht mehr. – Im übrigen kennt die bundesdeutsche Verfassungsordnung keine Notverordnungen; Gesetze des Bundesrates im Gesetzgebungsnotstand und solche des Gemeinsamen Ausschusses im Verteidigungsfall werden als „Gesetze“ bezeichnet, wenngleich sie ebenfalls bestimmten Beschränkungen unterliegen.

Anwendung in der Habsburgermonarchie

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Als „Notstandsparagraph“ galt in der Dezemberverfassung von 1867 der Paragraph 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung, welcher bei Sistierung (‚Stillstellung‘) des Parlaments der Habsburgermonarchie mehrmals in Anspruch genommen wurde.[6]

Mark Twain verfasste im Zuge seines Österreichbesuchs (1897–99) diesbezüglich den Text Government by Article 14 („Regieren mit Paragraph 14“).[7] Auch Karl Kraus äußerte sich häufig und kritisch zu diesem Paragraphen und nannte ihn „das dem Staate angelegte Verfassungsbruchband“.[8]

Notbestimmungen in der Republik Österreich

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Siehe Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz und Notbestimmungen der Österreichischen Bundesverfassung

Der Bundesrat kann Verordnungen (Notverordnungen) und Verfügungen (Notverfügungen) erlassen, um Gefahren, die die öffentliche Ordnung oder die innere oder äußere Sicherheit gefährden könnten, abwenden zu können (Art. 185 Abs. 3 BV). Solche Verordnungen sind zu befristen (Art. 185 Abs. 3 BV; siehe auch Art. 7d RVOG). Damit der Bundesrat Verordnungen dieser Art erlassen kann, müssen abgesehen von den allgemeinen Schranken staatlichen Handelns (wie Verhältnismäßigkeit und öffentliches Interesse) gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. So muss die öffentliche Ordnung in bedeutendem Masse gestört oder unmittelbar durch eine ernsthafte Gefahr bedroht sein. Es muss zudem eine zeitliche und sachliche Dringlichkeit vorliegen, die den Erlass entsprechender Vorschriften im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ausschließt (siehe auch: Notrecht).[9]

Wiktionary: Notverordnung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Hans Boldt: Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung. Sein historischer Hintergrund und seine historische Funktion. In: Michael Stürmer (Hrsg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. 2., erw. Auflage, Athenäum, Königstein/Ts. 1985 (1980), ISBN 3-7610-7254-6, S. 288–309, hier S. 297.
  2. Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne (= Edition Suhrkamp 1282 = N.F. Bd. 282, Neue historische Bibliothek). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, ISBN 3-518-11282-1, S. 84.
  3. Richard J. Evans: Das Dritte Reich. Band 1: Aufstieg. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004, ISBN 3-421-05652-8, S. 443 f.
  4. Ian Kershaw: Hitler. 1889–1936. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, ISBN 3-421-05131-3, S. 582.
  5. vgl. die Bundestags-Plenarprotokolle
  6. Vgl. Artikel „Notverordnung“ im Austria-Forum (ehem. aeiou-Österreich-Lexikon); Martin Mutschlechner: „Der Mangel an politischer Kultur“ (Projekt der Schloß Schönbrunn Kultur- und Betriebsges.m.b.H.).
  7. Vgl. auch Stirring Times in Austria („Bewegte Zeiten in Österreich“); bzw. „Mark Twain, Beobachter mit spitzer Feder“ (Webseite des österr. Parlaments).
  8. So in „Das provisorische Österreich“, in: Die Fackel Nr. 6, 1899, S. 13–16 (online einsehbar bei archive.org).
  9. Giovanni Biaggini: BV Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. Orell Füssli Verlag, Zürich 2017, ISBN 978-3-280-07320-9, S. 1401 f.